Rezension zu Rudolf Stirn: Der Schattenzirkus ruft. Roman in Miniaturen. Alkyon-Verlag 2003
Jutta Weber-Bock, Stuttgart
In der Antike waren Erkenntnis- und Vorstellungswelt ununterscheidbar. Homers Ilias galt den Griechen als wissenschaftliche Geschichte ebenso wie den Römern die Werke des Tacitus, der munter Legenden und Fakten durcheinander mischte. „Es sind nicht die Dinge selbst, die uns ein Leben lang umtreiben, sondern es sind die Vorstellungen, die wir uns von den Dingen machen“, sagt Montaigne in den Essais. Wenn „Der Schattenzirkus ruft“ und es heißt: „Der Garten träumt, sagte er. Der Schattenzirkus ist da. … Sei leise, sagte ich beschwörend, die Wände der Häuser sind aus Papier“, dann scheint es mir eben genau um diese Vorstellungen zu gehen, die wir uns von den Dingen machen.
Und es scheint auch ein Stück weit der „eine Ton“ zu sein, der Rudolf Stirn in seinen Geschichten immer wieder umtreibt. Geboren in Stuttgart, seit vielen Jahren in Weissach im Tal lebend. Studium der Germanistik und der Klassischen Philologie, der Politologie, Soziologie und Volkswirtschaft, gibt sein Lebenslauf preis und zeigt damit gleichzeitig den Horizont auf, vor dem seine zahlreichen Romane, Erzählungen und Theaterstücke sich entfalten. Schon die Titel seiner Bücher verraten auch etwas von der Art seines Erzählens, so z.B. „Der goldne Tropf – Erzählungen aus Backpfeif“, „Der Inselkönig -Fantasiestück in Callots1 Manier“ oder „Mörike, der Kanzler, Kleiner und Ich – Capriccio2“ – stets ein ironisch-liebevoller Blick auf die Absurditäten von Alltag und Politik, auf einen (vorläufigen) Höhepunkt getrieben in „Der Schattenzirkus ruft“, ein Roman in Miniaturen, der in aller Kürze ein Panoptikum an Figuren heraufbeschwört, ein Ich-Erzähler mit seiner Frau Elsa, Carlo und seine Frau Julia, aber sind es wirklich zwei verschiedene Ehepaare in dieser seltsamen Wohngemeinschaft?
Und die Zirkusleute, der große Pupo mit seinen Muskeln, Othello, der Dompteur, Carambolo, der Narr und Giselle, die Tänzerin – oder ist sie Blumenverkäuferin? Sie alle sind Zirkus-Darsteller und Alltags-Menschen zugleich. Wirklichkeit und Vorstellung sind untrennbar miteinander verknüpft und lassen sich nicht fein logisch trennen mit dem Seziermesser. Einige Beispiele, zufällig aus dem Schattenzirkus herausgenommen, zeigen dies: „Clorinde (eine Nachbarin) bestürmte mich. Sie trug einen Schwung abgenommener Untermieter über dem Arm, frisch von der Leine.“ – „Die Hacke, mit der ich meinen Zorn klein machte, lehnte an der Mauer. Daneben der Pfarrer. Er hatte begonnen die Namen aus meinen Kleidern zu schneiden.“ – „In meiner Brust wurde eine Fabrik stillgelegt, die Arbeiter waren ohne Hoffnung.“
Aktuelle Gegenwart und geschichtliche Ereignisse waren in allen Zeiten nicht so weit voneinander entfernt. Die Unordnung der Welt lässt uns niemals los. „Wenn Elsa vor den großen Schrank trat, geriet sie oft in Wut. In allen Taschen Gedichte, schrie sie. Sie bleute den Anzug, zerrte an den Nähten, den Laschen und fetzte das Futter entzwei. Entsetzen fuhr in das Bügeleisen, die Hosen fingen zu zittern und beten an.“ „Meinen Schatten essend, den von Jahren, den auf mich zuschnellenden Rausch der Erinnerung, ich folgte ihm, vorbei an den rebensatten Hängen, knapp über dem Abgrund.“ „Frage deine Wirklichkeit nicht: „Warum“, frage deine Träume: „Warum nicht?“ sagt George Bernard Shaw. Der Schattenzirkus ruft. Und wer weiß schon, welche Wirklichkeit in den Traumzelten steckt. Der Schattenzirkus ist überall. Und Vorsicht: Der Taxifahrer könnte auch der Fährmann sein.
1 einfallsreicher und origineller, scharf beobachtender Schilderer des Volkslebens
2 einfallsreiches, launiges und formal ungebundenes Musikstück
Jutta Weber-Bock, Stuttgart
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